Mit Stress leben
In meine Praxis kommen immer mehr Menschen, die – wie sie selbst sagen – „Stress haben“. Die meisten von ihnen sind jung, haben einen Beruf, eine Anstellung und ein soziales Netz.
Es scheint, dass wir die Vorstellung aufgeben müssen, in der vor allem ältere Menschen, Menschen in Führungspositionen mit 60-Std-Woche oder die alleinerziehende Mutter mit Vollzeitstelle Stresssymptome zeigen.
Eine 25-Jährige Angestellte beispielswese hat solche Rückenschmerzen, dass sie sichzeitweise kaum bewegen kann. Ihr Leben und ihr Alltag scheint völlig „normal“. Die Ursache der Schmerzen hat noch niemand feststellen können.
Kiefer-, Nacken- und Schulterverspannungen, Rückenschmerzen, ein Gefühl von Schwere und Belastung sind die häufigsten Beschwerden, die meine Klientinnen und Klienten dazu bringt, „jetzt etwas für sich zu tun“.
Menschen kommen mit diesem Motiv zu mir: Sie haben das Gefühl, etwas für sich tun zu müssen und etwas Neues probieren zu wolllen. Sie können aber nicht genau sagen, was ihnen fehlt bzw. was sie haben. Sie empfinden ein diffuses Unwohlsein angesichts ihrer Lebenssituation und ihres Alltags; Sie spüren, dass ihr Körper eine Grenze setzt und dass sie auf dieses Signal achten sollten. Sie wissen aber nicht, wie sie darauf reagieren sollen.
Stress – Stressor – Stressreaktion
Unser Körper reagiert mit Stress(-reaktionen) auf belastende Ereignisse in seiner Umgebung oder auf unsere Gedanken im Kopf. Die Faktoren, die in unserem Körper Stressreaktionen auslösen, werden Stressoren genannt.
Stressoren sind heute z.B. Lärm, Zeitdruck, Überlastung, Beziehungskonflikte usw.
Allgemein sind Stressoren belastende Situationen, Probleme – oder die Sorgen, die wir uns machen – letztlich „stress“ uns unsere (negative) Bewertung der Ereignisse.
Alle Menschen reagieren ganz unterschiedlich. Was für die einen ein „stressendes“ Ereignis ist, bewerten die anderen als Herausforderung. Einige bewältigen große Belastungen über einen langen Zeitraum hinweg gut, andere fühlen sich nach kurzer Zeit überfordert und verbraucht.
Wie wir auf „belastende Ereignisse“ reagieren und wieviel davon wir vertragen, ist individuell völlig verschieden.
Jemand, der seinen Arbeitsplatz verliert, kann das als Chance sehen sich beruflich zu verändern, sich eine neue Stelle suchen oder etwas ganz anderes ausprobieren.
Für den anderen ist der Arbeitsplatzverlust eine „Katastrophe“ und er glaubt, keine Chance mehr zu haben und ohne Perspektive zu bleiben.
Ob Ereignisse Stressreaktionen in uns auslösen oder chronische Stresssymptome, hängt von diesen Faktoren ab:
1. von unserer individuellen Bewertung der Ereignisse
2. von unserem Selbstvertrauen, unserer Selbsteinschätzung
3. von unseren Bewältigungsstrategien
4. von der Dauer der belastenden Situation
Typische Stresssymptome
Als belastend und schwierig bewertete und empfundene länger andauernde Situationen führen zu typischen Stresssymptomen:
Magenschmerzen, Darmbeschwerden, Augenlidflattern, hohe Reizbarkeit, Nervösität, Schlafstörungen, chronische Muskelverspannungen und Schmerzen.
Unter extremer körperlicher und seelischer Anspannung „beißen wir die Zähne zusammen“ – Bruxismus ist der Fachbegriff für das unbewusste nächtliche Zähneknirschen. Am Morgen tun Kiefer und Kopf weh. „Es sitzt uns etwas im Nacken“ und „bereitet uns Kopfzerbrechen“ oder schlägt uns auf den Magen, geht uns an die Nieren…
Wir ziehen oft den Kopf ein, wir ducken uns, ziehen die Schultern hoch, um Stress auszuweichen und gewöhnen uns so Fehlhaltungen an, die zu Beschwerden führen können.
Wenn wir nicht in der Lage sind, Stressoren zu vermeiden, zu reduzieren oder konstruktiv mit ihnen umzugehen, kann das zu chronischer (Nacken-)Spannung und Verspannung in Nacken, Kopf und Schultern, Erschöpfung (Burnout), Schmerzen im Bewegungsapparat und Depressionen usw. führen.
Die automatische Stressreaktion des Menschen
Die instinktive Stressreaktion läuft automatisch ab, wenn wir eine Situation, ein Ereignis als „stressig“ empfinden. Sie ist eine angeborene und nützliche körperlich-psychische Reaktion unseres Organismus, der unseren Vorfahren das Überleben sicherte. In Gefahrensituationen bereitete sie den Körper sicher darauf vor anzugreifen oder zu fliehen.
Angesichts einer „Gefahrensituation“, (Stressor) wird das Hormon Adrenalin ausgeschüttet. Es sorgt dafür, dass dem Körper genug Energie zur Verfügung steht, um mit einer „Gefahr“ umzugehen und -je nach Bewertung der Situation- anzugreifen oder zu fliehen.
Die Adrenalinausschüttung initiiert eine Kette von Reaktionen:
Sie sorgt u.a. für die Weitung der Atemwege, die Beschleunigung der Atmung, für eine bessere Sauerstoffauf- nahme, die Erhöhung des Blutdrucks und des Herzschlags, die Vorbereitung (Anspannung) der Muskulatur für den Angriff oder die Flucht. Die Muskeln werden in Abwehrstellung (Kampf) gespannt, sodass wir sprungbereit und für einen (Nah-)Kampf aktiviert sind oder die Flucht antreten können.
Dieser Reaktionsmechanismus wird auf einen Stimulus hin ausgelöst. In früheren Zeiten war die Dauer der Stressreaktion kurz. Entweder war die Flucht gelungen oder nicht, der Kampf gewonnen oder verloren.
Die extreme Energie, die eine Flucht oder den erfolgreichen Kampf ermöglichte, wurde durch die körperliche Anstrengung (Kampf / Flucht) entladen. Der Organismus kam danach wieder zur Ruhe und konnte entspannen.
In unserer Gesellschaft gibt es
1. vor allem andauernde Stresssituationen und
2. diese erfordern keine „Abwehrkämpfe“ mehr
Die Stressreaktion wird jedoch immer noch und immer bei belastender Umwelt (Stress) automatisch in Gang gesetzt.
Vor allem diffuse und ständig verspürte Ängste und Panikgefühle gehören zu den modernen Stressoren. Menschen, die zu mir kommen, bemerken nach einiger Zeit unserer Arbeit oft erst, dass sie eigentlich stänfig in Angst leben: Angst vor Arbeitsplatzverlust, Angst vor der Arbeit wegen Konflikten oder Mobbing am Arbeitsplatz, Angst vor Krankheit, Alter, Tod, Umweltkatastrophen, Angst vorAlleinsein und Isolation, Angst vor Armut. Die Berichterstattung in den Medien schürt diese Ängste und bestätigt sie.
Sie wirken subtil und da sie als solche nicht immer sofort klar zu benennen sind, ist es schwer, konstruktiv und wirksam damit umzugehen.
Die instinktive Stressreaktion mobilisiert den Körper für ein Verhalten, das in den meisten Fällen nicht (mehr) angemessen ist.
Die meisten Belastungen sind mit einem „Nahkampf“ nicht zu bewältigen, auch nicht mit Flucht. Es werden aber extreme Emotionen wie Aggression/Wut oder Angst ausgelöst.
Sie werden Ihren Chef oder Ihre KollegInnen, von denen Sie sich gestresst fühlen, nicht tätlich angreifen. Die Flucht aus dem gefühl der Unterlegenheit hilft Ihnen auch nichts. Unsere modernen Gegner sind meist in unmittelbarer Nähe.
Wenn die Endreaktion „Flucht“ oder „Kampf“ nicht mehr stattfinden und wir keine andere abreagierende Strategien haben, wird diese extreme Energie nicht mehr entladen. Der Adrenalinpegel bleibt erhöht, die Muskulatur angespannt, der Organismus auf Hab-Acht-Stellung. Die älteren Strukturen des Gehirns bekommen ständig das Signal, dass eine „Gefahr“ droht und geben das wiederum u.a. als Aufforderung zur Adrenalinausschüttung und Anspannung an die Muskulatur weiter, sodass das Gehirn die Information erhält, dass eine Gefahr droht – ein Teufelskreis entsteht. Die Muskulatur entspannt nicht mehr, der Körper kommt nicht mehr zur Ruhe.
Die mobilisierte Energie versorgt unseren Bewegungsapparat und innerviert die Muskelstränge beiderseits der Wirbelsäule. Wird die Energie wiederholt aufgestaut und nicht durch die entsprechenden extremen Bewegungen entladen, sind Rückenschmerzen oft die Folge.
Akzeptierte Mittel um aufgestaute Energie zu entladen sind Joggen, Fitness, Sport im Allgemeinen, lachen und schreien drücken Emotionen direkt aus. Nach der „Entladung“ kann der Körper erholen.
Diese Mittel lösen aber das Problem der Stressbewältigung, d.h. die Bewältigung des uns belastenden Berufs oder Alltags nicht, sie sind lediglich der „Ausgleich“, der auf Raten von Gesundheitsexperten schon vor 30 Jahren in die Freizeit oder in Therapiestunden verschoben wurde.
Lachen in zivilisierter Form ist gestattet in adäquater Form und Umgebung; vor Wut oder Angst zu schreien, ist schon schwieriger; Gefühlsausbrüche sind meist „Privatangelegenheit“.
Unsere Umwelt verändert sich schnell. Statistiken der Krankenkassen und die Fehlzeiten in den Unternehmen belegen, dass die Zahl von Erkrankungen wie Burnout, Depression und Rückenschmerzen die Konsequenz unserer Reaktionen auf die momentane gesellschaftliche Situation sind.
Eine große Rolle spielt unser Kommunikationsverhalten, Handy, Tablet, Social Media – wir sind always online und immer erreichbar.
Der Umgang mit den modernen Kommunikationsmitteln will aber gelernt sein.
Abgrenzung – STOPP
Meiner Erfahrung nach sind es meist die weniger Abgegrenzten mit hoher Leistungsbereitschaft, die schnell und dauerhaft Stresssymptome zeigen und solangeaushalten bis ihnen Ruhe und Entspannung dauerhaft fehlt und sie chronische Beschwerden und Krankheiten haben.
Ist der Körper ersteinmal auf Hochtouren getrimmt, kann er gar nicht mehr einfach so abschalten und regenerieren. Der organische Wechsel von Anspannung und Entspannung, Aktivität und Ruhe ist grundlegend gestört.
Unsere instinktive Stressreaktion führt uns in einen Teufelskreis, der zu immer mehr Anspannung, und sinnlosem Energieverbrauch führt. Dabei hilft sie uns überhaupt nicht. Sie taugt nicht für die Art moderner Belastung und frisst trotzdem unsere Kraftreserven auf.
Statt mit der automatischen Stressreaktion in eine Situation zu gehen, müssen wir differenziert reagieren.
Dazu braucht es eher ein „Zurücktreten“ und Distanz gewinnen zu dem, was uns stresst.
Das hat den Sinn
1. das „Hochfahren“ unseres Systems zu verhindern,
2. zu erkennen, was uns da stresst.
3. zur Ruhe zu kommen, uns in Ruhe zu lassen,
4. unser Nervensystem herunterzufahren, indem wir keine Information mehr geben
STOPP, um aus dem Teufelskreis auszubrechen und eine Pause einschieben zwischen dem Reiz (Stressor) und der automatischen Reaktion darauf.
Es ist wie ein Reset des PC, die Prozesse werden auf 0 zurückgesetzt, um von dort wieder neu zu beginnen.
Hatte die Stressreaktion in früher Vorzeit die Funktion, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, die Sinne zu schärfen für die Überlebenshandlung, so „tut“ sie uns heute das Gegenteil an.
Der hohe Stresspegel macht uns kopflos und wir können unsere Handlungen nicht mehr bestimmen, geschweige denn entscheiden, was wir jetzt am besten tun sollten.
Anzuhalten bedeutet, nichts zu tun als Ihren Impulsen nicht nachzugeben. Egal, ob diese von außen oder innen kommen.
Sie halten an. Sie reagieren nicht. Die automatischen Reflexe sind stark. Sie antworten aber nicht darauf, Sie reagieren nicht.
Nehmen Sie wahr, was in Ihnen passiert.
- Wie fühlt sich das an? Wie fühlen Sie sich?
- Nehmen Sie Ihren Körper wahr.
- Nehmen Sie immer Ihre Füße auf dem Boden wahr.
- Atmen Sie ein, atmen Sie aus und beobachten Sie, wie Sie ein- und ausatmen.
- Die Atmung beruhigt sich und wird tiefer. Der regelmäßige Rhythmus Ihres Atems beruhigt Sie.
- Das Nervensystem ist ruhig.
Bei Spannung hilft nur eins: Entspannung!
Beobachten Sie, wie Sie sich fühlen.
Das Heraustreten aus dem Teufelskreis, den der wiederholte Ablauf der automatischen Stressreaktion bewirkt, ist der erste Schritt zur Entspannung. Das Anhalten unserer Reaktion auf die „Stressoren“ oder den eigenen inneren Aufruhr lässt uns zur Ruhe kommen.
Wir können klarer wahrnehmen und denken, Entscheidungen treffen und Bewältigungsstrategien oder Lösungen entwicklen.
Aktive Entspannungstechniken
- lösen Verspannungen und beruhigen.
- schulen die Körperwahrnehmung.
- helfen, in Stress-Situationen die körperlich-emotionale Erregung abzubauen.
- machen Sie belastbarer und erhöhen Ihre Stresstoleranz.
- helfen Ihnen, langfristig gelassener und zufriedener zu werden.
- verringern bereits bestehende psychosomatische Beschwerden wie Spannungskopfschmerzen, Herz- oder Kreislaufstörungen
- helfen bei chronischen Beschwerden.
- können Sie als Soforthilfe in akuten Stresssituationen einsetzen.
Angelika Wichert